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  • AutorenbildJulia Moldenhauer

Ungeschönt - Poetisch - Positiv



Zum Titel


Der Roman „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter wurde 2022 im mikrotext Verlag veröffentlicht. Das Buch umfasst 213 Seiten und erhielt im Frühjahr 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse.



Zum Inhalt


Als Sohn türkischer Einwanderer hier in Deutschland geboren wirft Dinçer Güçyeter in „Unser Deutschlandmärchen“ einen Blick in die Vergangenheit, spürt den Wurzeln seiner Familie nach und fängt mit seiner ganz eigenen Sprache ein, worüber lange nicht gesprochen wurde. Seit Kindesbeinen an arbeitet er mit, unterstützt vor allem seine Mutter Fatma, die hart für das Leben und ihre Zukunft in Deutschland gearbeitet hat und den Blick zurückwirft auf ihre Integration in diesem fremden Land und zwei Kulturen, die sich begegnen.


Rezension


Dinçer Güçyeter bezeichnet sich selbst in allererster Linie als Dichter, zu lyrischen Texten hat er schon in früher Jugend Zugang gefunden. Seine Liebe zu diesem Literaturgenre ging so weit, dass er 2011 einen eigenen Verlag namens ELIF dafür gründete, der übrigens diese Woche mit dem deutschen Verlagspreis ausgezeichnet wurde. „Unser Deutschlandmärchen“ ist nach den mehreren Gedichtbänden nun sein Romandebüt, wobei es in meinen Augen eigentlich überhaupt kein Roman ist, vielmehr eine Anthologie, die in ihrer Gesamtheit eine Biografie in Ausschnitten ergibt. Verschiedene Textarten führen uns an die Figuren heran, an Hanife, die Großmutter und Fatma, die Mutter, deren Lebensgeschichte einen Großteil des Buches ausmacht. Und natürlich an Dinçer selbst, der sich an kleine und große Geschichten erinnert und Gespräche mit den Frauen seiner Familie wiedergibt. Je nach Bedeutsamkeit ändert sich die Form der kurzen Kapitel, mal lyrisch als Gedicht oder Lied, auch als Chor mit verschiedenen Stimmen, dann wieder als Brief oder Text in der Ich-Form aus einer der Perspektiven heraus. Auch die Zeitebene ist nicht stringent, manche Szenen wiederholen sich und wir lesen zwei Sichtweisen derselben Situation. Dies klingt verwirrender als es ist, tatsächlich kann man sich sehr gut orientieren, wie alt war Dinçer, wann und wo spielt sich das Erlebte ab. Das Leseerlebnis ist abwechslungsreich, allerdings auch fordernd, wobei dieses Märchen so oder so keine leichte Lektüre ist. Einen derart konzipierten Roman (oder eine Romanbiografie, wie auch immer man es nennen will), so ein Stückchen Literatur habe ich jedenfalls noch nie gelesen. Zusammenhängend zwar, aber doch bruchstückhaft begleiten wir Dinçer durch seine Kindheit, durch schöne und schwere Zeiten. In der Lesung erzählte er, wie er alle, Großmutter, Mutter und Tanten an einen Tisch geholt hat und sein Projekt erklärt hat, um ihre Hilfe gebeten hat, um ihre Erinnerungen. Die Wortwahl in den Texten bleibt somit immer persönlich, intensiv, Wort für Wort, nichts sollte verloren gehen. Manchmal traurig, manchmal wütend, manchmal schmunzelnd und lachend, so wie sich das Buch liest war wohl auch die Geschichte der Einwander- und Arbeiterfamilie Güçyeter. Mütter, Großmütter und Tanten, Frauen, die nicht auf Titelseiten stehen, vollbringen täglich Heldinnentaten für ihre Familien. Dinçer Güçyeter hat sie in seinem Buch zu Wort kommen lassen.


Ich hatte diese Rezension schon vor ein paar Tagen fertig, doch irgendwie kam sie mir unvollständig vor, ich konnte meine Emotionen in Bezug auf das Buch nicht auf den Punkt zum Ausdruck bringen. Es war, als fehlte mir als Leserin noch ein Puzzleteil für ein umfassenderes Verständnis des Autors und seines Werkes und so ließ ich die Besprechung unveröffentlicht, um die Lesung mit ihm abzuwarten, die von unserer Buchhandlung veranstaltet wurde. Und nun, nach diesem Abend mit diesem sympathischen und literarisch vielseitigen Mann, den Anekdoten aus seinem Leben und den Gesprächen mit seiner Mutter und den Frauen seiner Familie, habe ich das Gefühl eines besseren Verständnisses, denn Dinçer Güçyeter hat etwas Wichtiges deutlich gemacht. Alles in seinem bisherigen Leben hatte seinen Sinn und seinen Wert. Er bezeichnet seine Kindheit und sein Aufwachsen nicht als belastet oder als schwere Kindheit, auch wirft er seinem Vater nicht vor, die Mutter zu wenig unterstützt zu haben.

Objektiv betrachtet wünscht man Kindern nicht, in der Nähe von Bordellen aufzuwachsen und mit 8 Jahren auf dem Gurkenacker zu schuften. Das Positive seines Lebens, das Märchenhafte wurde mir bei der Lesung eindrücklicher vermittelt, als ich es nach der Lektüre in Worte hätte fassen können, denn nach welchen Maßstäben beurteilen wir, ob eine Kindheit, ein Leben als glücklich zu bezeichnen ist? Alles ist eine Frage der Perspektive habe ich gestern gelernt und als Wahrheit erkannt. Von unterschiedlichen Perspektiven, auf vielerlei Art, erzählt dieses Buch. Öffnen wir die Augen und Ohren und Herzen und nehmen öfter mal die Perspektive anderer Kulturen ein, fremder Menschen, anderer Geschlechter, lernen dazu und verstehen einander.



Zum Verlag


Der mikrotext Verlag ist ein kleiner, unabhängiger Verlag aus Berlin, der 2013 gegründet wurde. Zu seinen Schwerpunkten gehören Texte, die gesellschaftlich debattierte Themen behandeln. Vorrangig wird zeitgenössische, deutschsprachige Literatur verlegt, darunter viele Debüts, aber auch gelegentlich übersetzte Titel. Der Verlag druckt seine Bücher hochwertig in Deutschland.

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