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AutorenbildJulia Moldenhauer

Nachdenklich – Ruhig – Komplex



Zum Titel


Der Roman „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ von Solvej Balle wurde 2020 im Original unter dem Titel ‎“Om Udregning af rumfang I“ veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe erschien 2023 im Verlag Matthes & Seitz Berlin. Übersetzt wurde es aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle und umfasst 170 Seiten.

Zum Inhalt Während sie in Paris Antiquitäten ankauft und Freunde besucht, gerät Tara in eine Zeitunregelmäßigkeit. Täglich beginnt der 18. November von neuem. Für ihren Mann Thomas, der zu Hause in Nordfrankreich geblieben ist, ist das ein normaler Zustand, morgens erinnert er sich nicht mehr an die Ereignisse des vergangenen Tages und dass sich täglich alles wiederholt. Auf der Suche nach einer Ursache und einem Ausweg aus den Variationen eines Novembertages entfremdet sich Tara von allem Zwischenmenschlichen. Rezension Man kommt nicht umhin, die Ausgangssituation mit dem Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" zu vergleichen. Die bleibt zwar die einzige Parallele, ich hatte es aber einfach im Kopf. Der Vergleich schadet allerdings nicht, weder Buch noch Film. Dieses kurze Buch ist für sich genommen ein Roman, eine Novelle vielleicht, doch ist die Geschichte nach der letzten Seite noch nicht auserzählt und soll auch nicht offen enden. Weitere sechs Bände werden angeblich folgen, Band II erscheint im Herbst in der deutschen Übersetzung, Band III im April 2024. Ich wusste dies schon beim Einstieg in die Lektüre und habe ehrlich gesagt bei den unter 200 Seiten (die zugegebenermaßen klein und eng beschrieben sind) keinen so umfangreichen Inhalt erwartet, ich habe weniger erwartet. Es ist, als wäre das Buch – passend zum Titel – ein Raumwunder.

Ich weiß nicht, wie ich in einer solchen Situation reagieren würde. Morgens aufzuwachen und den Tag als Wiederholung zu erkennen, liegt tatsächlich nicht jenseits meiner Vorstellungskraft, aber meine Reaktion darauf schon. So ist diese Novelle die Basis eines Gedankenexperimentes, das sich im Verlauf immer mehr verzweigt.

Tara reagiert zunächst analytisch und ruhig, als die Erkenntnis der Zeitschleife sie trifft, die scheinbar nur sie wahrnimmt. Die Situation, dass sie sich nicht zu Hause befindet, dass niemand auf sie wartet und sie an diesem 18. November nicht vermisst wird, ist gut gewählt. Insgesamt ist alles passend konstruiert, natürlich nicht bis ins Detail logisch, wie könnte es das, aber absolut glaubwürdig.

Tara durchläuft verschiedene Phasen während der Geschichte, deren Erzählung an Tag #121 beginnt. Um sich nicht in den immergleichen Tagen zu verlieren, dokumentiert sie die Anzahl der 18. November die aufeinanderfolgen, die Tagesabläufe, was sie herausgefunden hat, wie sie nach Hause zu Thomas zurückgekehrt ist – früher als abgesprochen aus seiner Sicht, wie sie ihm alles erklärte und was sie unternommen haben um die Zeitunordnung zu beeinflussen.

In den 170 Seiten steckt ein ganzes Jahr. Ein Jahr Beziehungskrise durch die Zeitverschiebung, ein Jahr Belastungsprobe der Liebe zwischen Tara und Thomas, ein Jahr Einsamkeit, ein Jahr Verstehen-wollen, Verstehen-müssen. Man ist beim Lesen so nah dran an den Charakteren und ihrer Beziehung, und dabei wird alles so unaufgeregt und leise erzählt, so auf der Suche und aus der Bahn geworfen, traurig und hoffnungssuchend. Solvej Balle versteht es, mit wenigen unaufgeregten Worten das Schicksal von Tara eindrücklich und intensiv zu vermitteln. Ihre zarte, gleichmäßige Sprache gefällt mir sehr, besonders berührt haben mich die sich wiederholenden Sätze, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass ich das Buch zu meinen bisherigen Highlights des Jahres zähle, es geht einem schlicht nicht mehr aus dem Kopf. Durch den Aufbau der Handlung kam ich oft an Punkte, in denen ich hinterfragt habe, wie ich reagieren würde, ob ich ähnlich oder ganz anders fühlen würde. Für mich war der Auftakt zu dieser komplexen Geschichte absolut vielversprechend und ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzungen.


Zum Verlag Der Verlag Matthes & Seitz Berlin wurde 2004 neu gegründet, nachdem es seit 1977 bereits den Verlag mit Münchner Sitz gegeben hatte. Zu den circa 100 Neuerscheinungen pro Jahr gehören verschiedene erfolgreiche Reihen, wie die aufwendig gestalteten „Naturkunden“ und die gesellschaftlich und politisch aktuellen Titel der „Fröhlichen Wissenschaft“. Insgesamt ist das Sachbuchprogramm mit Titeln aus Geisteswissenschaften, Natur, kulturwissenschaftlichen Bereichen und Vielem mehr als umfangreich zu bezeichnen. Im Bereich Belletristik findet man unter anderem Gegenwartsautoren aus Deutschland, Russland, Frankreich und China, aber auch Neuübersetzungen klassischer Literatur.

Seit 2019 erscheinen viele Titel des Programms auch als Taschenbuch, um den Zugang zu bedeutender Literatur zu erschwinglichen Preisen jedem Publikum zugänglich zu machen

Im Januar 2021 ist der Berliner August Verlag als Imprint von Matthes & Seitz hinzugekommen, seit 2022 auch der Rohstoff Verlag.

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