Zum Titel
Die Novelle „Sterben“ von Arthur Schnitzler erschien 1894 - aufgeteilt auf drei Ausgaben - in der Neuen Deutschen Rundschau. Im Anschluss (vordatiert auf 1895) folgte die Veröffentlichung als Buch.
Die vorliegende, überarbeitete Ausgabe erschien 2022 im Input-Verlag, herausgegeben von Verleger Ralf Plenz. Das Buch umfasst 158 Seiten, darin enthalten ist ein kurzes Vor- und Nachwort des Journalisten und Literatur- und Medienwissenschaftlers Carsten Tergast.
In diese Ausgabe, eigentlich in die ganze Buchreihe, verliebte ich mich auf der BuchBerlin.
Zum Inhalt
Die Liebe zwischen Marie und Felix wird überschattet von seiner schweren Krankheit. Doch wie krank ist der junge Mann wirklich? Er habe noch ein Jahr zu leben, wenn er Glück hat. Marie kann dies kaum glauben, etwas Erholung wird schon ihr Übriges tun. Auch die zu Rate gezogenen Ärzte sind sich uneins. Verschweigen sie womöglich etwas? Wie sich die Beziehung der beiden jungen Menschen über die schweren Monate entwickelt, aber auch, welche individuellen Krisen sie durchleben, davon erzählt Arthur Schnitzler in seiner 130 Jahre alten Novelle.
Rezension
Dies ist - der Titel lässt es vermuten - keine fröhliche, hoffnungsvolle Lektüre. Wenn man auch als LeserIn zu weiten Teilen im Unklaren gelassen wird, ob Felix nun tatsächlich todkrank ist, wie er glaubt, oder sich dies nur eingebildet, es wird schnell deutlich, welchen Belastungen das junge Paar ausgesetzt ist.
Arthur Schnitzler entwirft innerhalb dieses kurzen Buches das Porträt einer Beziehung Ende des 19. Jahrhunderts mit zunächst recht klischeehafter Rollenverteilung und Charakterdarstellung. Geradezu plakativ, möchte ich sagen, und war daher zu Beginn leicht genervt von der Aufopferungsbereitschaft Maries, davon, dass Felix sie mit „mein Kind“ anspricht und ihre Ansprüche herunterspielt. Die Sprache ist zudem sehr überbordend, dazu hauptsächlich Dialoge mit allerhand Ausrufezeichen, es liest sich fast wie ein Theaterstück. Zudem ist es ein Auf und Ab und Hin und Her.
Ich frage mich, ob ich das Buch anders eingeordnet hätte, ob es einen Unterschied macht, ob Felix ein tatsächlich Totgeweihter ist, ein Hypochonder, oder ob es darum gar nicht geht. Ich denke, ich hätte einen anderen Focus beim Lesen gesetzt, denn dieser Umstand sorgte dafür, dass mir die Entwicklung der Figuren im Mittelteil zu undeutlich blieb. Ich war ständig dabei, die Krankheit psychisch und physisch einzuordnen.
Die Unklarheiten sind, ebenso wie die Ambivalenz der ProtagonistInnen beabsichtigt, ich würde sogar so weit gehen, dass Schnitzler möglicherweise beim Schreiben (die Entstehung der Geschichte, die zunächst den Titel „Naher Tod“ trug, nahm 5 Monate in Anspruch) selbst nicht genau wusste, wie es sich entwickeln wird. Insofern habe ich diese Unsicherheit als Prozess - für Autor und LeserIn – betrachtet und meinen Frieden damit gemacht und darauf eingelassen.
Schnitzler war, ebenso wie sein Vater Johann, Mediziner. Als ihm wegen eines militärkritischen Textes der Offiziersrang aberkannt wurde, widmete er sich ganz der Schriftstellerei und hier insbesondere psychoanalytischen Texten. Er behandelt in seinem ersten Prosatext in Buchform eine Thematik, die – auch heute noch – überall auf der Welt von Bedeutung ist. Abschied nehmen. Weiterleben. Trauern. Und das stellt er wirklich meisterhaft da, daher verstand ich am Ende den Weg, den er Marie und Felix gehen ließ.
Wie schwer muss es in einer Partnerschaft sein, die gemeinsame Zeit als endlich zu begreifen. Marie und Felix durchleben verschiedene Phasen, als Paar, aber auch individuell. Auf wenig Raum beschreibt uns der Autor die unterschiedlichen Gefühle und Phasen der Hauptfiguren absolut nachvollziehbar, konfrontiert uns mit der ganzen Bandbreite an Gefühlen, zu denen verzweifelte Menschen fähig sind. Melancholie, Verbitterung, Liebe, Freude, Neid, Missgunst, Schuldgefühle. Die sich daraus entwickelnde Toxizität stellt er auf beängstigende Weise dar. Im letzten Drittel blickt man gespannt auf Marie, die sich entwickeln muss, die sich entscheiden muss.
Sehr anschaulich werden die Sterbe- und Trauerphasen aufgegriffen, ohne sie in irgendeiner Weise zu benennen, aber sie waren alle da. Und sie sind Dreh- und Angelpunkt, sie machen die Dynamik des Textes aus, verdeutlichen die zunehmende Inkompatibilität der Figuren, die sich an gegensätzlichen Punkten befinden. Das Paar schreitet nicht gemeinsam durch diese Zeit, kann es nicht, ihre Wünsche, ihr Erleben, ihre Gefühle reiben sich aneinander, sie stehen einander im Weg, entfernen sich einmal, bevor sie sich hilfesuchend aneinanderklammern.
Die Thematik des Buches ist sehr tiefgreifend. Ich habe einst auf einer Palliativstation gearbeitet. Es gibt nichts, was an diese Erfahrungen herankommt, ich bin unglaublich dankbar für diese Zeit. Seitdem lese ich Bücher über Tod und Sterben mit anderem Blick. Trotz meiner Kritik kann ich sagen, dass es wohl das ehrlichste, authentischste Buch über Trauer und Abschied ist, sei es vom Leben oder auch nur vom gemeinsamen Leben, das ich bisher gelesen habe. Denn das, wovon es erzählt, ist zutiefst menschlich.
Zur Buchreihe
Seit Herbst 2021 hat Ralf Plenz im Hamburger Input-Verlag die Reihe „Perlen der Literatur“ ins Leben gerufen. Gemeinsam mit einer Literaturwissenschaftlerin, einer Lektorin, zwei Autoren und zwei Übersetzern werden bibliophile und nicht zuletzt erschwingliche Neuauflagen wiederentdeckter europäischer Literatur herausgegeben. Teils waren diese Werke, die sorgfältig aus über 100 antiquarischen Werken ausgewählt wurden, nicht mehr auf dem deutschen Buchmarkt lieferbar.
„Sterben“ ist Band 14 von bislang 20 Bänden aus dieser wundervollen Reihe. Alle Bände sind in dunkelblaues Leinen gebunden und tragen eine auffällig designte Banderole mit Schlagworten zum Inhalt des jeweiligen Werkes. Das Vorsatzpapier ist ebenfalls auf den Titel abgestimmt. Den Abschluss bilden Fotografien aus antiquarischen Erstausgaben. Zum Teil wurden die Ausgaben überarbeitet, die Rechtschreibung angepasst oder sogar neuübersetzt und um kenntnisreiche Vor- und Nachworte ergänzt. Das alles zeigt die unglaubliche Liebe und Leidenschaft alten Klassikern gegenüber. Ralf Plenz produziert übrigens einen wöchentlichen Podcast. „Der Büchermacher“ umfasst Folgen mit je 20 Minuten, der Name ist Programm. Er ist kostenlos auf allen gängigen Plattformen erreichbar.
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