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  • AutorenbildJulia Moldenhauer

Erschütternd - Traurig - Aufrüttelnd

Aktualisiert: 24. Apr. 2022



Zum Titel


Der Roman „Marias Zitronenbaum" von Nassira Belloula wurde 2018 erstmals unter dem Originaltitel „Aimer Maria“ veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe erschien 2021 im Kinzelbach Verlag. Das Buch umfasst 160 Seiten und wurde von Tina Aschenbach aus dem Französischen übersetzt.

Das Buch habe ich mir im März 2022 auf dem Leipziger Weiter:Lesen-Event um die nichtstattgefundene Buchmesse direkt bei der Verlegerin gekauft.

Zum Inhalt

Maria ist grade 16 als sie mit einem vollkommen fremden Mann verheiratet wird. Von der Ehe weiß sie nichts, doch wie sie die liebevolle Beziehung ihrer Eltern erlebt hat ergeht es ihr nicht. Für die Schwiegermutter ist sie weniger wert als eine Bedienstete, der Mann misshandelt sie seelisch und körperlich. Ihre Kinder belächeln sie, nie geht sie allein raus, immer trägt sie altmodische Kleider, dass dies nicht nach eigenem Willen geschieht, ahnen sie nicht. Als Maria im Fernsehen eine religiöse Sendung ansieht, bei der der Imam davon predigt, gute Ehefrauen werden im Paradies in alle Ewigkeit mit ihrem Ehemann vereint sein - je ergebener die Frau mit umso weniger Jungfrauen muss sie den Mann teilen - bekommt Maria einen Nervenzusammenbruch. Es ist nicht der erste, infolge der jahrelangen Demütigungen hat die gebrochene Frau eine Methode gefunden, sich aus der Realität zurück zu ziehen, die sich nun als ausgewachsene Psychose manifestiert. Nach 30 Jahren Ehe mit dem Falschen packt Maria ihre Sachen, um zurück in ihr Elternhaus zu gehen, dahin, wo alles begann und alles Schöne endete um wieder ein junges Mädchen zu sein.

Rezension Ich spreche selten Triggerwarnungen aus, bei diesem Buch muss ich jedoch explizit darauf hinweisen. Es macht um KEIN sensibles Thema einen Bogen.

Auch auf Zitate greife ich selten zurück, hier geht es nicht anders, es gibt keine besseren Worte als die der Autorin.. "Marias Zitronenbaum" ist ein trauriges und erschütterndes Buch. Man muss sich vor Augen halten, in welchem Maß Frauen auch heute noch unter vorsinnflutlichsten religiösen Vorgaben leben müssen, ihre Jugend und Unbeschwertheit zurücklassen für ein Leben in Knechtschaft, ohne eigene Meinung, ohne mit dem eigenen Namen angesprochen zu werden, als Mensch ohne Wert, ohne Respekt behandelt zu werden. Es macht fassungslos und hilflos.

 

"Gibt es andere Paradiese oder nur das eine: für Männer und ihre Untergebenen, die Frauen?" S. 60

 

Nassira Belloulas Wortwahl ist wahrlich nicht zimperlich. Poetisch und ausgeschmückt ist ihr Stil, bildhaft und intensiv, aber Grausames wird klar und deutlich angesprochen und ist nichts für "vorbelastete" Gemüter glaube ich. Alle "unbelasteten" Gemüter sollten den Blick hinter Marias Kulissen wagen, Kulissen, die sie 30 Jahre lang aufgebaut hat, die zu durchschauen gewesen wären, hätte nur jemand hingesehen, Maria gesehen. Hier wagt der Roman mutige Töne und spricht einen, wie ich finde, oft vernachlässigten Aspekt an, nämlich die Verantwortung und die fehlende Unterstützung durch andere Frauen, das fehlende Einschreiten, die mangelnde Solidarität.

 

"Wir haben ihre Gefangenschaft ignoriert, mit unserer Gleichgültigkeit gutgeheißen und damit männliche und patriarchalische Mentalität aufrechterhalten." S. 84

 

Die Autorin schreibt sehr sprunghaft, man muss sich immer wieder orientieren, aus welcher Sicht wir Maria betrachten, aus ihrer eigenen, der ihres Mannes, ihrer Mutter, ihrer Tochter? Es passt aber sehr gut, dieses fragmentarische und die Zeitsprünge, immer tiefer zieht uns der Sog in Marias Persönlichkeitsspaltung, die sie wieder jung sein lässt, unbeschwert - und verliebt. Ich habe das Gefühl, ich habe viel mehr als 160 Seiten gelesen. Das ganze Buch war voller Klebezettel, sogar Ecken habe ich im Eifer des Gefechts wegen einiger Zitate umgeknickt! Es hat mich sehr beeindruckt, wie deutlich Nassira Belloula schreibt, wie verletzlich und verzweifelt sie Maria darzustellen vermochte. Und wie sie seziert, wie es möglich ist, dass noch heute im Namen der Religion Frauen durch das Patriarchat der Männer und, nicht zu unterschätzen, das Matriarchat der Schwiegermütter unterdrückt und zugrunde gerichtet werden. Eine ganz besondere Geschichte, eine ganz erstaunliche Protagonistin, ein klarer Weckruf der Autorin: Seht hin, greift ein, unterstützt Frauen, die in Not sind! Lasst niemanden allein.

 

"... es ist kein alles überschreitendes Licht, wenn es nicht alle Frauen erleuchtet, denn diejenigen, die draußen sind, haben die Pflicht, die Leuchten auf diejenigen zu richten, die in der Dunkelheit geblieben sind." S. 84

 

Zur Autorin Nassira Belloula ist eine französischsprachige Journalistin und Schriftstellerin algerischer Herkunft. Heute lebt und arbeitet sie in Montreal. Früh bildete sie eine differenzierte Betrachtungsweise aus, sie war Mitglied im algerischen PEN-Zentrum (Poets, Essayists, Novelists), trat 1993 in die sogenannte „unabhängige“ Presse ein und hat sich bis zur Chefredakteurin hochgearbeitet, bis sie 2010 Algerien verließ. 2012 nahm sie ihr Studium an der Universität von Montreal wieder auf, wo sie einen Abschluss in Geschichte und einen Bachelor of Arts and Sciences erwarb.

Die Thematik ihrer mittlerweile 15 Bücher dreht sich vorrangig um Status und Rolle der Frauen ihres Heimatlandes.


Zum Verlag Der Mainzer Kinzelbach Verlag wurde vor 28 Jahren von Donata Kinzelbach gegründet. Besonderer Schwerpunkt liegt auf der Veröffentlichung von zumeist belletristischer Literatur aus dem Maghreb – also Algerien, Marokko, Tunesien – in deutscher Übersetzung. Einblicke in eine fremde Kultur, in ein anderes Weltverständnis. Es werden Werke namhafter Autoren aus Marokko, Algerien und Tunesien in Übersetzung aus dem Französischen und Arabischen publiziert. Daneben gibt es unter anderem Literatur aus Malta, welches als Bindeglied zwischen Europa und den maghrebinischen Staaten steht. Man findet im Verlagsprogramm auch Ausgaben in französischer Sprache, die zum Teil von Lehrerheften begleitet sind und sich zum Einsatz im Französischunterricht eignen, ebenfalls wissenschaftliche Literatur wie zum Beispiel das 2008 erschienene „Geschlechterordnungen in Nordafrika“. Besonderes Anliegen von Donata Kinzelbach ist die Veröffentlichung der jungen Generation von AutorInnen. Bücher, die dem deutschen Buchmarkt ohne ihren Verlag fehlen würden. Im Jahr 2008 erhielt die Verlegerin daher zu Recht das Bundesverdienstkreuz für ihren verlegerischen Einsatz als Mittlerin zwischen den Kulturen.

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