Zum Titel
Der Roman „Bournville“ von Jonathan Coe wurde im Jahr 2022 erstmals unter dem Titel “Bounville: A Novel in Seven Occasions“ veröffentlicht. Die deutschsprachige Ausgabe erschien 2023 im Folio Verlag, in einer Übersetzung aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Juliane Gräbener-Müller. Das Buch umfasst 405 Seiten und ist ein Hardcover mit Schutzumschlag.
Zum Inhalt
Der Untertitel, der auf der ersten Seite des Buches zu entdecken ist, verrät schon etwas über den Aufbau der Handlung - „Ein Roman in sieben Ereignissen“. Im Mittelpunkt steht das Leben von Mary Lamb und ihrer großen Familie. Schauplatz ist Bournville, ein beschaulicher Ort nahe Birmingham, der um 1900 von der Familie Cadbury für die steigende Zahl der MitarbeiterInnen ihrer Schokoladenfabrik gegründet wurde. Bedeutende Ereignisse werfen ihre Schatten, vereinen die einen und entzweien die anderen Familienmitglieder. Wer wählt welche Partei? Wie wurde die Krönungsfeier von Queen Elisabeth verfolgt? Wer weint (und wer nicht?!) über den Tod von Lady Diana?
Rezension
Ich muss zugeben, ich habe lange gebraucht, um in das Buch reinzukommen. Das lag zunächst an der Zeitsprüngen, denn los geht es mitten in der Coronapandemie, schwenkt dann um zur Kindheit von Mary zum Ende des Zweiten Weltkrieges und hüpft dann munter hin und her. Dabei wird sich anhand sieben bedeutender Vorkommnisse aus Sicht Großbritanniens orientiert, das heißt, es werden auch etliche ereignislose Jahre zwischendurch übersprungen. Da half auch der Stammbaum auf der ersten Seite nichts, ich persönlich finde mich dann einfach nicht gut zurecht und mir wäre eine chronologische Erzählstruktur entgegengekommen. So bin ich nach meinem Empfinden verspätet in Bournville angekommen. Immer wieder irritiert hat mich auch der Wechsel der Erzählperspektive, die grundsätzlich aus Sicht eines außenstehenden Erzählers geschrieben ist. Hin und wieder meldet sich jedoch einer der ProtagonistInnen persönlich oder in Briefform zu Wort. Damit hatte ich meine Schwierigkeiten, es machte so einen zusammengepuzzelten Eindruck, episodenhaft im störenden Sinne.
Aber!
Letztendlich habe ich diesen Familienroman sehr liebgewonnen, weil ich die Familie liebgewonnen habe. Was bei deren Feiern, Telefonaten und Treffen ausdiskutiert wird, reicht von der Krone über Schokolade, James Bond, Brexit, Pandemieregeln, Patriotismus und Fußball. Aber auch Homophobie und Rassismus entzweit die Angehörigen. Die unterschiedlichen Seiten werden hierbei sehr anschaulich beleuchtet, jede Figur hat ihre eigene kleinere oder größere Rolle und nach und nach wurde alles überschaubar und fügte zusammen zu einem mit Leben gefüllten Stammbaum. Der Autor hat einen sehr warmherzigen Stil, man spürt seine Sympathie und sein Verständnis für seine Protagonistinnen und Protagonisten, das machte das Lesen so angenehm, ruhig und freundlich.
Highlight war immer, wenn, ähnlich einer Fußnote den Kapiteln oder Situationen kleine, feine Zusatzinformationen angefügt wurden, die oft später – oder zuvor eine Rolle spielen und spielten. So wiederholen sich ein paar Szenen, werden erinnert, erneut (oder vielleicht erstmals) erzählt. Das hat dem Roman eine Besonderheit verliehen, eine melancholische Stimmung, die sich im Laufe verstärkt und wovon ich gern mehr gehabt hätte. Es erzeugte eine tiefere Bindung zur Geschichte, die zu Beginn für mich nicht wahrnehmbar war. Was zunächst etwas belanglos auf mich wirkte, entwickelte sich Seite für Seite zu einer vielseitigen Geschichte über eine Schokoladenfabrik, eine ihr zuliebe gegründete Kleinstadt, den Einfluss der royalen Ereignisse auf den Alltag der Bevölkerung und vieles mehr. Ein tolles Buch, um sich etwas besser in die Gemüter, aber auch die Zerrissenheit unserer Nachbarn einfühlen zu können. Und zudem einfach ein gut lesbarer Stoff, aus dem so manche Familie war und ist.
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Was ich übrigens immer liebe ist, wenn ich durch ein Buch etwas erfahre und es mir dann direkt im Alltag begegnet. So geschehen während der Lektüre, als ich in einem mir fremden Supermarkt meine Lieblingsschokolade gesucht und dabei versehentlich Cadbury gefunden habe. Und wenn man die Informationen über das hin und her der Rezeptur dann grade gelesen hat, verbinden sich mehrere Dinge zu einem. Das kann Literatur!
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