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Verwirrend – Aufwühlend – Undurchsichtig

  • Autorenbild: Julia Moldenhauer
    Julia Moldenhauer
  • 1. Mai
  • 3 Min. Lesezeit


Zum Titel

 

Der Roman „Frühlingnacht“ von Tarjei Vesaas wurde 1954 erstmals unter dem norwegischen Titel „Vårnatt“ veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe erschien 2025 im Guggolz Verlag. Das Buch umfasst 239 Seiten und wurde von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzt. Im Anhang findet man ein Nachwort von Hanne Ørstavik. Es handelt sich um ein für Guggolz-Bücher typisches bedrucktes Hardcover ohne Schutzumschlag.

 

 

Zum Inhalt

 

Der 14-jährige Hallstein und seine ältere Schwester Sissel sind allein zu Hause. Es ist eine Nacht, die den Jugendlichen einen Ausblick auf die Freiheit des unabhängigen Erwachsenenlebens gibt. Doch dann steht unerwartet eine Familie vor der Tür, in offensichtlichen Nöten, und bittet um Hilfe. Schnell wird deutlich, nicht nur praktische Hilfe ist gefragt, auch unsichtbare Probleme belasten ihr Miteinander. Hallstein ist das Verhalten der Fremden ein großes Rätsel, da sie nicht in der Lage scheinen, die Situation selbst aufzulösen. Die Anspannung im Haus spitzt sich zu, als einer nach dem anderen von Hallstein Unterstützung einfordert.

 

 

Rezension

 

Dies war mein erstes Buch des Norwegers Tarjei Vesaas, dessen Bücher nach und nach vom Guggolz Verlag neu- und erstübersetzt werden. Der zu Lebenszeiten (1897-1970) als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelte Autor nahm in seinen Werken vorwiegend eine kindliche oder jugendliche Perspektive ein, seine Hauptfiguren sind junge Menschen, die Geschichten geprägt durch deren Blick auf die Gesellschaft und zwischenmenschliche Beziehungen.

„Frühlingsnacht“ beginnt mit den Geschwistern Hallstein und Sissel, deren Eltern zum ersten Mal über Nacht außer Haus sind. Hallstein glaubt, er sei nun auch wirklich alt genug, um Verantwortung zu übernehmen. Nicht mehr lange und er würde unabhängig sein. Und was er nicht alles schon weiß und versteht. Doch bereits kurze Zeit später beobachtet er heimlich eine Szene zwischen Sissel und ihrem Freund und steht schon vor einem Rätsel. Denn obwohl sie ihn doch mag, weist sie ihn ab, schickt ihn fort. Hallstein genießt die Zweisamkeit mit Sissel, den Abend umgibt ein Zauber des Neubeginns, eine Aufregung. Der sensible Teenager beobachtet, hört, fühlt. Vesaas bringt die Leserinnen und Leser, vor allem durch die Sprache, die er verwendet, ganz nah an ihn heran. Wir begleiten ihn auch mit zu Gudrun, seiner imaginäre Freundin seit vielen Jahren, ein Überbleibsel aus der Kindheit. Mit ihr teilt er seine Gedanken.

Die Stimmung der Geschichte ändert sich jäh, als eine Familie in Not vor der Tür steht, zu diesem Sachverhalt will ich gar nicht viel sagen, das kann selbst erlesen werden. Doch wenn zwei Jugendliche allein zu Hause sind und es bei Gewitter an der Tür klingelt, entsteht schon allein durch diese Umstände ein unheimliches Gefühl. Und Unheimliches umgibt auch Grete, Hjalmar, Karl und Kristine, unheimlich sind ihre Art und das, was sich zwischen ihnen ereignet hat.

Tarjei Vesaas lässt uns Lesende über Vieles im Unklaren, was einen deutlichen Nachhall nach Beendigung der Lektüre erzeugt. Die Differenzen, die die hilfesuchende Familie auszutragen versuchen, können sie allein scheinbar nicht mehr bewältigen. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Schuldgefühle, es geht drunter und drüber. Und inmitten dessen steht Hallstein, der versucht zu verstehen, zu vermitteln, der sich doch das Erwachsensein gar nicht so kompliziert vorgestellt hat und letztendlich alles ganz anders sieht als zu Beginn der Nacht.

 

Vom Unkonkreten, Nebulösen und Undeutlichen lebt diese Geschichte. Der Autor lässt einigen Spielraum für Interpretationen, erzeugt damit Spannung und eben diese besondere Stimmung. Wir wissen nicht viel weniger oder viel mehr als die Figuren im Buch, alle sind wir überfordert und verwirrt.

Was „Frühlingsnacht“ auch ausmacht, ist Hallstein. Er ist ein unglaublich prägnanter und sympathischer Protagonist, kindlich naiv und unverdorben, ein toller Charakter. Ich habe Schwierigkeiten mit sogenannten „Coming-of-Age“-Stories, finde sie oft zu konstruiert, die Figuren – vor allem die männlichen – oft befremdlich, aber hier wurde Jugend und Heranwachsen mithilfe der problematischen Beziehungen der erwachsenen Personen aus meiner Sicht literarisch auf ganz ungewohnte Art thematisiert. Man reflektiert schließlich selbst Verhaltensweisen und sieht, wie merkwürdig Vieles aus kindlicher Perspektive wirken muss!

Ich habe das Buch auf der Leipziger Buchmesse sowie in unserer Buchhandlung bei einem Literarischen Speeddating vorgestellt. Und weil ich es für ein geeignetes Buch zum Diskutieren und Interpretieren halte, wird es Ende Mai unser Lesekreis-Buch. Ein Titel, mit dem man sich ausgiebig auseinandersetzen kann – aber keinesfalls muss. Es wird nicht mein letztes Buch von Tarjei Vesaas gewesen sein, zwei weitere warten bereits hier. Ich bin begeistert, dass solche Literatur nicht verloren geht, aufgrund des Einsatzes kleiner, unabhängiger Verlage.

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