Zum Titel
Der Roman „Die Angestellten“ von Olga Ravn wurde 2018 erstmals unter dem Titel „De ansatte“ veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe erschien 2022 im März Verlag und trägt den Untertitel „Ein Roman über Arbeit im 22. Jahrhundert“. Das Buch umfasst 143 Seiten und wurde von Alexander Sitzmann aus dem Dänischen übersetzt.
Zum Inhalt
Auf einem Raumschiff, das seit geraumer Zeit auf einer Entdeckungsreise knapp außer Sichtweite zur Erde durch den Weltraum unterwegs ist, befinden sich seit kurzem einige scheinbar organische Objekte, die von einem fremden Planeten aufgenommen wurden. Diese haben auf die Besatzung, die teils aus Menschen bestehen, aber auch aus nachgezüchteten humanoiden Lebensformen, sowie vollständig technologischen Wesen mit künstlicher Intelligenz, ganz unterschiedliche Auswirkungen. Etwas setzt sich an Bord in Gang, eine Reaktionskette, die zum Tod einer Person führte und die es im Nachhinein zu untersuchen gilt. Der Roman setzt sich aus den Zeugenaussagen der individuellen Besatzungsmitglieder unterschiedlichen Ranges zusammen - allerdings ohne zu erfahren, ob sie Menschen sind, Roboter oder etwas dazwischen.
Rezension
Was für ein unglaublicher Roman! Nicht im herkömmlichen Sinne, da er keine zusammenhängende Geschichte erzählt, es gibt nicht mal einen Erzähler. Auf den knapp 150 Seiten liest man lediglich Zeugenaussagen, durchnummeriert von 004 bis 179, wobei auch zwischendurch Zahlen fehlen oder Aussagen übersprungen werden und so erfahren wir ausschließlich persönliche Eindrücke. Die Besatzungsmitglieder des Sechstausender-Schiffs wurden zu einer Stellungnahme aufgerufen, doch nicht jeder weiß, was die Protokollanten eigentlich hören wollen. Eine Handlung ergibt sich so schon, allerdings eine sehr lückenhafte. Mehrere Gegenstände von einem Planeten namens „Neuentdeckung“ wurden auf das Schiff verbracht, die eine merkwürdige Wirkung zu entfalten scheinen, sie wecken beispielsweise Sehnsüchte und fördern das Wohlbefinden. Doch um was genau es sich dabei handelt, erfährt man nicht und damit lässt es sich gut leben (und lesen). Es ist nicht schlimm, dass einem nach jeder Aussage wieder etwas entfleucht, was man nach der vorherigen endlich zu fassen glaubte. Am Ende, und das ist wirklich phänomenal gut, werden die Ereignisse zu einer runden Sache, doch das ist gar nicht das Highlight für mich gewesen.
Man liest das Buch zum Beispiel in der Mittagspause in einem Bistro - und ist plötzlich auf dem Raumschiff. Die kurzen Beiträge der unterschiedlichen Charaktere sind unmittelbar und prägnant und haben mich alle paar Seiten andächtig das Buch sinken lassen als ich versuchte, das Gelesene irgendwie zu erfassen und auch emotional einzuordnen. Das war ein echtes Leseerlebnis, dieses Buch machte etwas mit mir. Die dänische Autorin, Lektorin und Übersetzerin Olga Ravn lässt die Besatzung des Raumschiffes die großen und elementaren Fragen des Lebens behandeln. In atemberaubend schönen Sätzen (ganz offensichtlich großartig übersetzt von Alexander Sitzmann) erfahren wir ihre innersten Empfindungen, so poetisch und philosophisch vielschichtig, dass es eine wahre Freude ist. Und das, ohne sich die Figur auch nur im mindesten vorstellen zu können. In manchmal nur 3 oder 4 Sätzen.
Was ist Arbeit, was ist Pflichtbewusstsein? Wem bin ich unterstellt, wem fühle ich mich verbunden? Was erfüllt mich mit Zufriedenheit? Olga Ravn lässt ihre Figuren resümieren, lässt sie die elementaren Fragen des Lebens stellen. Sie hebt ihre Individualität hervor, die verblüfft. Egal, ob natürlich geborene Menschen, entwickelte und optimierte Humanoide oder Maschinen, Entscheidungen werden infrage gestellt, Zugehörigkeit gesucht, Sentimentalität entdeckt. Und als LeserIn ist man ganz nah dabei.
Man soll ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen, doch ich bin ein visueller Typ, auch die Haptik eines Buches ist mir wichtig, vor allem aber das Cover und das ist schlicht gesagt nicht mein Fall. Ich wäre nicht ohne weiteres auf die Idee gekommen, zielstrebig den Verlagsstand auf der Leipziger Buchmesse anzusteuern und mir „Die Angestellten“ zu kaufen, wenn ich nicht bei einer Verlagsvorstellung so glühende Empfehlungen dieses Titels vernommen hätte. Zum Glück, nicht auszudenken, ich hätte dieses Buch verpasst! Ein sprachlich zärtliches, wunderschönes, sehnsuchtsvolles Buch über Individuen auf der Suche nach Zufriedenheit zwischen Pflichterfüllung und Selbstverwirklichung, ein Buch aus der Zukunft.
Zum Verlag
Der März Verlag ist ein unabhängiger Verlag, der 1969 in Darmstadt gegründet wurde. Heute hat er seinen Sitz nach vielen Aufs und Abs und der Neugründung in Berlin. Zum Verlagsprogramm gehört sowohl deutschsprachige als auch internationale Literatur. Er bezeichnet sich selbst als „radikal und niemals konsequent“.
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