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AutorenbildJulia Moldenhauer

Außergewöhnlich - Sprachverliebt - Nominiert



Zum Titel


Der Roman „Birobidschan“ von Tomer Dotan-Dreyfus erschien im Frühjahr 2023 im Verlag Voland & Quist. Das Buch umfasst 320 Seiten und ist ein Hardcover ohne Schutzumschlag. Es trägt ein Lesebändchen.

Das Buch war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023.



Zum Inhalt


Auf einem Plakat verspricht der Ort Birobidschan in der Grenzregion der Sowjetunion zu China das Paradies für sozialistische Juden – noch bevor es den Ort überhaupt gibt. Und so bildet sich dort 1934 eine kleine Siedlung, die in Abgeschiedenheit einem Mikrokosmos gleicht. Die Tageszeitung ist eine Woche alt, bis sie den Ort erreicht. Mit den Jahren siedeln sich vereinzelt weitere Juden an, ein Zug mit Flüchtlingskindern hält am Bahnhof der Transsibierischen Eisenbahn. Die Leben der Bewohner werden durch dieses und verschiedene andere Ereignisse teils maßgeblich beeinflusst. Von ihrem Aufwachsen, ihren Ehen, ihren Beziehungen zueinander erzählt dieses Buch. Was zuerst passierte und was wodurch bedingt wurde, ist dabei manchmal nicht mit den Gesetzen der Zeit vereinbar.



Rezension


Ich schreibe diese Besprechung in dem Wissen, dass „Birobidschan“ es nicht auf die Shortlist der Nominierten für den Deutschen Buchpreis geschafft hat und somit nicht mehr als Preisträger in Frage kommt. Ich finde das mehr als bedauerlich, nicht nur, weil es kein unabhängiger Verlag auf die Shortlist geschafft hat, nicht nur, weil es ein jüdischer Autor gewesen wäre, der mit dieser Geschichte unseren Horizont erweitert. Es ist zuallererst ein richtig gutes, sogar unglaublich gutes Buch.

Schon die Idee der Geschichte ist spannend, denn Birobidschan gab es wirklich - gibt es wirklich. Mittlerweile ist es eine Großstadt und die Hauptstadt der Jüdischen Autonomen Oblast (jüdisches Siedlungsgebiet außerhalb Israels). Das Ziel beim Entwurf des Ortes in der Regierung unter Stalin, die unliebsamen Juden aus den Städten in ein eigens entworfenes Siedlungsprojekt zu propagandieren, wurde nicht erreicht. Anders als im Roman blieben die Menschen nicht dort, dafür zogen andere Bevölkerungsgruppen zu, so dass Juden heute in der Minderheit sind. Trotzdem ist es interessant zu erfahren, dass in Birobidschan neben Russisch auch Jiddisch gelehrt wird, da man es als Sprache der Ahnen nicht der Vergessenheit anheimfallen lassen will, auch, wenn sich der Großteil der Bevölkerung als russisch bezeichnet. Jiddisch als die Sprache europäischer Juden, musste sich sonst weltweit dem Hebräischen unterordnen, in dieser Stadt ist es Teil der Kultur, des Stadtbildes und des Alltags und sogar der einzige Ort der Welt, wo es Amtssprache ist!

Eine weitere faszinierende Begebenheit ist das Mysterium um den sibirischen Wald Tunguska, welche ebenfalls nicht vom Autor frei erfunden ist, sondern einem realen Ereignis zugrunde liegt. Dort wurden im Juni 1908 eine Vielzahl von Explosionen gemeldet, die im Umkreis von 30 Kilometern Bäume entwurzelten. Am ehesten geht man von Meteoriteneinschlägen ein, zweifelsfrei klären ließ sich das bis heute nicht.

Um diese beiden Tatsachen entspinnt Tomer Dotan-Dreyfus nun also seine Geschichte und die erzeugt von der ersten Seite einen unwiderstehlichen Lesesog. In kurzen Kapiteln, die zwischen Zeiten, Orten und Figuren wechseln, erfahren wir in fiktiven Zusammenhängen etwas über die Entstehung Birobidschans, von den merkwürdigen Ereignissen in Tungunska und wie alles mit einer handvoll ausgedachter Figuren in Verbindung steht.

Wortwahl und Sprache sind höchst abwechslungsreich und treffsicher, durchzogen von jiddischen Begriffen, was ich wunderbar fand, bildhaft und mit viel Charme und Zuneigung zur Handlung und den Personen. Die bereits erwähnten kurzen Kapitel erzeugen zwar einerseits Spannung, stiften allerdings auf der anderen (vollkommen beabsichtigt) Verwirrung. Man kann sagen, die ganze Geschichte beginnt mittendrin – und endet auch mittendrin. Wer jetzt denkt, das sei bei Büchern ja irgendwie immer so, der wird bereits bei der Einleitung dieses außergewöhnlichen Romans auf die Besonderheiten hingewiesen. Es ginge nicht immer alles mit den geltenden Gesetzen von Zeit und Logik einher, heißt es da. Denn der Autor macht etwas, was ich noch nie gelesen habe, er macht Zeitsprünge, die von der Gegenwart in die Vergangenheit führen und andersherum und hält sich dabei nicht an die Reihenfolge und Kausalität der Ereignisse. Etwas kann so passieren, weil er es im vorherigen Kapitel vorbereitet hat. Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart - das spielt für die Geschichte keine Rolle, alles beeinflusst sich in ungewohnter Weise. Das hört sich komplizierter an, als es ist, ich fand mich im Text tatsächlich hervorragend zurecht. Man muss Realität einfach ein bisschen flexibler definieren, dann eröffnet einem der Autor ein Himmelszelt neuer Sichtweisen und Zusammenhänge.

Während man also leicht und entspannt liest und recht schnell durch die gewandte Ausdrucksweise des erst seit 10 Jahren in Deutschland lebenden Autors gefangen genommen wird und sich eine angenehme Spannung aufbaut, springt man immer wieder zu einem neuen Anfang, der aber auch immer Zukünftiges im Blick behält, alles ist episodenhaft, miteinander verwoben und ergibt immer wieder absolut Sinn. Hier wächst man als Leser oder Leserin eben mit seinen Aufgaben!

So, wie die Reihenfolge der im Roman beschriebenen Ereignisse erst im Verlauf einen ganz bestimmten Sinn und eine ganz bestimmte Folge ergeben, ergeben es auch die Beziehungen der Figuren, die schicksalhaften Zufälle und ihre Folgen.

Hier vor mir liegt ein sensationell gutes Buch, das mir aus so vielen Gründen im Kopf bleiben wird, das ich mit mir tragen werde, das ich vielleicht noch einmal lesen werde um erneut zu versuchen, es zu ordnen, es einzuordnen, dessen Tiefsinn erneut greifen wollend. Dies scheint mir jedoch vorerst nicht notwendig. „Birobidschan“ ist nicht rund, wie man immer so schön sagt, eine runde Sache, geschlossen. Am Ende des Buches ist alles offen, alles ist möglich alles kann sein und das hat mich begeistert.

Bleibt noch zu sagen, dass es auch ein schönes Buch ist, innen und außen. So ohne Schutzumschlag, schwarz-weißes Cover, ein aufregendes Format, ein angenehmes Schriftbild. Manchmal weiß ich auch nicht, wie das kommt, aber ich halte ein Buch in der Hand und die Chemie stimmt. So war das auch mit „Birobidschan“ und das Gefühl, diese Zuneigung ist geblieben und bleibt wohl noch für lange.

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